Die europäische Union
– in Vielfalt geeint?
von Christina
Riedlinger
Angesichts der kulturellen
Vielfalt in Europa stellt sich die Frage: Kann es überhaupt
eine
gemeinsame europäische
Kultur geben?
Kultur- und Medienwissenschaftler meinen: Die Europäer
verbindet schon mehr,
als gedacht.
„Die Einigung
Europas gleicht dem
Versuch, ein Omelett zu backen, ohne Eier zu zerschlagen“,
meinte der
französische Schriftsteller und Journalist Paul Lacroix im 19.
Jahrhundert.
Heute würde er sich angesichts des fortgeschrittenen
europäischen
Integrationsprozesses wohl verwundert die Augen reiben.
Dennoch zeigen sich die
EU-Bürger
in Umfragen immer wieder unzufrieden mit der Europäischen
Union. Aufgeblähte
Bürokratien, hochbezahlte, aber ineffiziente Beamtenapparate,
das europäische
Parlament als „Quasselbude“ – so lauten
weit verbreitete Vorurteile gegenüber
der europäischen Union. Auch die gescheiterten
Verfassungsreferenden in
Frankreich und den Niederlanden warfen die Frage neu auf, ob die
europäische
Integration vorübergehend ins Stocken geraten ist.
Die EU –
Bürger zeigen selten Flagge. Anzeichen für eine
EU-Müdigkeit?
Vom Wirtschaftsraum zum
europäischen Kulturprojekt
Ursprünglich
hatte alles als Wirtschaftsprojekt begonnen: 1951 gründeten
sechs Länder –
Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg
und
die Niederlande – die Montanunion. Durch enge Zusammenarbeit
bei der Kohle- und
Stahlversorgung sollte ein erneuter Krieg in Europa verhindert werden.
„Ein
gemeinsamer europäischer Kulturraum wurde in diesem
Frühstadium allenfalls in
Festtagsreden beschworen“, erklärt Reinhard Johler,
Professor am Seminar für
Empirische Kulturwissenschaft an der Universität
Tübingen, der sich intensiv
mit der Rolle der Kultur im europäischen Integrationsprozess
auseinandersetzt
Die zunehmende wirtschaftliche
Vernetzung führte erst nach und nach zu einem
verstärkten politischen Dialog.
Die politischen Eliten erkannten, dass sie die Idee eines geeinten
Europas
nicht allein verwirklichen konnten. Ein „Europa der
Bürger“ sollte entstehen,
denn die auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen
wirkten sich
zunehmend auf den Alltag der Bürger aus. Ein wichtiger Schritt
dazu: Seit 1979
bestimmen nicht mehr nationale Parlamente die Abgeordneten, sondern die
EU-Bürger wählen diese direkt.
Europa
wird aber erst durch den kulturellen Dialog der Bürger
lebendig. Vor allem die
junge Generation wurde als Botschafter eines gemeinsamen Europa
entdeckt. Seit
den 80-er Jahren fördert die EG gezielt den Austausch
europäischer Schüler und
Studierender. Die Aufenthalte sollen auch motivieren,
europäische Fremdsprachen
zu lernen.
Die
kulturelle Annäherung rückte aber zugleich
stärker die europäische Vielfalt ins
Bewusstsein. Reinhard Johler verdeutlicht dies anhand der
Schwierigkeiten sich
auf eine gemeinsame Europahymne zu verständigen. Die Melodie
war zwar schnell
in der berühmten Chorfassung „Freude
schöner Götterfunken“ von Beethovens
letztem Satz der 9. Sinfonie gefunden. „Bisher konnten
sich die Mitgliedsstaaten aber
noch auf keine Sprache einigen.“ Ein Zeichen dafür,
dass zwar ein gemeinsamer
Markt leicht zu verwirklichen ist, aber nicht eine gemeinsame Kultur.
„Die
Europäische Union hatte lange Zeit kein Konzept, wie sie mit
ihrer kulturellen
Vielfalt umgehen soll“, sagt Johler. Doch das hat sich
geändert – die Vielfalt
wurde zum Programm.
Vielfalt nutzen
– Regionen stärken
„In
Vielfalt geeint“ – so lautet das offizielle Europamotto seit
2000. Als
Ideengeber darf sich übrigens ein Schüler
rühmen. In einem europaweiten
Schülerwettbewerb hatte er die entscheidenden
Schlagwörter `Einheit` und
`Vielfalt` eingebracht. Auch Reinhard Johler sieht gerade in der
Vielfalt den
großen Vorteil Europas. „Durch die Globalisierung
werden alle Länder dem
gleichen wirtschaftlichen Prozess unterworfen. Gerade die
Europäer können
dabei ihre Vielfalt als Chance im Globalisierungswettbewerb einsetzen
und
produktiv nutzen.“
Durch globale Zusammenarbeit und
durch Migration wurden kulturelle Unterschiede in den Nationalstaaten
nicht
nivelliert, sondern sogar verstärkt. In Deutschland benutzen
konservative
Politiker immer wieder den Begriff „Leitkultur“ und
suggerieren damit, dass es
kulturell geschlossene Gesellschaften gäbe. „Die
Realität sieht komplexer aus“,
so Johler. „Nicht alle Deutschen haben eine typisch deutsche
Kultur, genauso
wenig wie alle Ungarn die eine ungarische Kultur haben. Es gibt heute
viele
Übergänge und Mischformen, in Deutschland
beispielsweise zwischen deutscher und
türkischer Kultur.“ In letzter Zeit setze sich eher
ein Verständnis von Kultur
durch, welches von regionalen Besonderheiten lebt. Mit ihrem Programm
„Europa
der Regionen“ fördert die Europäische Union
gezielt einzelne Regionen. Diese
Förderung ist in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr
willkommen.
Ursachen
der EU-Müdigkeit
Dennoch scheinen weder die
politischen Bemühungen noch die zahlreichen von der EU
geförderten
Kulturprojekte bei der Bevölkerung so recht zu fruchten.
Reinhard Johler meint,
falsche Vorstellungen von der europäischen Bürokratie
spielten dabei eine
Rolle: „Viele stellen sich die EU-Gebäude als
Riesenkolosse vor, in denen böse
Bürokraten lauern wie die Spinne im Netz." Dieses fast schon
kafkaeske
Bild einer übermächtigen Bürokratie, deren
Fängen der Einzelne hilflos
ausgeliefert ist, entspricht natürlich in keinerlei Weise dem
Brüsseler Alltag.
Eine Mitschuld an der verbreiteten
„Eurosklerose“ tragen auch die nationalen
Regierungen. Speziell England sei
Meister darin, der eigenen Bevölkerung populäre
EU-Beschlüsse als Eigenleistung
zu verkaufen, kritisiert Johler. Unbeliebte Entscheidungen hingegen
würden als
„von Brüssel angeordnet“ hingestellt, auch
wenn England diese zuvor selbst mit
verabschiedet hatte. Hier erfüllen
die Medien eine wichtige Funktion. Diese sollten
einer wahltaktisch motivierten Europakritik wachsamer
gegenüber stehen. Denn
wie wir Europa sehen und was wir wahrnehmen, wird entschieden durch die
Medien
geprägt.
In den Redaktionen werden
europäische Themen jedoch meist stiefmütterlich
behandelt. „Die
Berichterstattung über die EU ist vergleichsweise gering. Ich
sehe nicht, dass
sich auf kultureller Ebene ein Integrationsbemühen in den
Medien abgezeichnet
hätte,“ erklärt Anja Herzog, die sich am
Hans-Bredow-Institut in Hamburg mit
der Rolle der Medien im europäischen Integrationsprozess
befasst. Verwunderlich
ist, dass dies auch auf die öffentlich-rechtlichen Sender
zutrifft, obwohl
diese in Brüssel große Auslandsstudios haben.
„Wenn überhaupt berichtet wird,
dann über die EU als Institution, weniger über
einzelne Länder“, schildert Anja
Herzog die Lage. „So können die
Nachbarländer nicht als mögliche Partner im
Bewusstsein der Menschen einsickern“
Meist
dominieren wirtschaftliche Themen die Berichterstattung.
„Laut
Eurobarometer liegen die Themenpräferenzen der Leute genau
umgekehrt zu dem,
was in den Medien repräsentiert wird“, klagt Herzog.
„Die Menschen
interessieren sich beispielsweise viel mehr für Fragen der
Kriminalitätsbekämpfung und für soziale
Probleme.“ Die Folge: Das Engagement
der EU auf diesen Gebieten wird von der Bevölkerung kaum
wahrgenommen.
Vor allem die politische
Berichterstattung sei stark durch eine nationale Perspektive
geprägt. „In den
westlichen Ländern werden polnische Gastarbeiter als
mögliche Bedrohung für die
nationale Wirtschaft gesehen“, sagt Herzog. Eine
europäische Perspektive, aus
der heraus es Sinn macht, Grenzen zu öffnen, werde dadurch
vernachlässigt.
Europäisierung
durch neue Medien?
Neue Medien
wie das Internet werden
oft als Hoffnungsträger auf dem Weg zu einer
europäischen Öffentlichkeit
dargestellt, da sie transnationale Kommunikationsräume
schaffen und durch ihren
unregulierten Zugang die mediale Vielfalt fördern. Anja Herzog
dämpft jedoch
die Euphorie: „Grundsätzlich stellt man sich die
neuen Medien als große Chance
vor. Aber wenn man sich anschaut, wie die Rezeption funktioniert, dann
muss man
feststellen, dass in erster Linie regionale und nationale Themen
Anklang
finden. Nur eine kleine Elite beschäftigt sich mit
europäischen Themen oder
anderen europäischen Ländern.“
Dem Fernsehen kommt daher nach wie
vor eine Schlüsselfunktion zu, da es von den Meisten als
Informationsquelle
genutzt wird. „Als erster Schritt ist eine
Europäisierung des Fernsehens von
Nöten“, fordert Herzog. Spezielle Europamagazine
meint sie dabei nicht, denn
diese sprechen, wenn überhaupt, nur ein kleineres Publikum an,
das bereits ein
überdurchschnittlich großes Interesse an
europäischen Fragestellungen
mitbringt. Um das Interesse
an Europa zu wecken,
müssten europäische Themen stärker in die
nationale Berichterstattung
integriert und intensiver über die Entwicklungen in den EU
Mitgliedstaaten
berichtet werden, fordert die Wissenschaftlerin. Nur so erkennen die
Bürger die
Relevanz europäischer Themen.
Da die Mediennutzer generell sehr unterschiedliche Erwartungen an eine
europäische
Berichterstattung haben, sollten die Programmangebote stärker
im Hinblick auf
einzelne Zielgruppen variiert werden.
Ein Massenpublikum erreichen bisher
vor allem sportliche Ereignisse wie die Europameisterschaft oder der
European
Song Contest. „Hier wird zwar auch mit nationaler Perspektive
geschaut, aber es
ist immerhin ein gemeinsames Thema. Und Europa gerät auf
einmal ins
Bewusstsein“, erklärt Herzog.
„L’auberge
espanole“
Insgesamt ist Europa aber
stärker
zusammengewachsen als oft wahrgenommen wird. Da sich kulturelle
Annäherungen
über lange Zeiträume hinweg entwickeln, sind sich die
Meisten dieser
Entwicklung gar nicht mehr bewusst. Reinhard Johler:
„Früher wäre es
beispielsweise undenkbar gewesen, dass eine Deutsche einen Franzosen zu
heiratet. Heute sind die kulturellen Widerstände in dieser
Hinsicht deutlich
gesunken.“ Gemeinsam seien den Europäern auch
zentrale Werte wie die Betonung
des Gemeinwohls oder die Ablehnung der Todesstrafe. Diese
Wertegemeinschaft sei
jedoch in den Köpfen der Menschen nicht sehr präsent,
vermutet Anja Herzog.
„Wenn man die Werte in den europäischen
Gesellschaften vergleicht, Türkei
inklusive, erkennt man große Übereinstimmungen,
beispielsweise in den Bereichen
Familie und Demokratie. In der Geschichte hat sich vieles an
Gemeinsamkeiten
entwickelt. Sie müssen aber präsenter gemacht werden,“ fordert sie.
Das Jahr 2008
soll den
Integrationsprozess nach der Erweiterung wieder vorantreiben. In
Ljubljana
wurde das „Europäische Jahr des interkulturellen
Austausches“ offiziell
eröffnet. Geplant sind unterschiedliche Projekte, welche die
Bürger einladen,
sich aktiv mit anderen Kulturen auseinander zu setzen und die
europäische
Vielfalt zu erleben.
Denn um sich nicht nur als
Deutscher, Engländer oder Spanier zu fühlen, sondern
neben der nationalen auch
eine europäische Identität zu entwickeln, ist es
wichtig, mehr über die anderen
Mitgliedsländer zu erfahren. Mehr voneinander erfahren kann
man beispielsweise
durch die Lektüre eines ungarischen Schriftstellers, beim
Betrachten eines
polnischen Kunstwerkes oder einfach durch einen Kinobesuch. Gerade der
europäische Film wird jedoch häufig als kopflastig
beschrieben und ähnelt so in
gewisser Weise der Vorstellung, welche die Bürger von der
europäischen Union
haben. „L'auberge espagnole“, eine
Komödie, die sich dem europäischen Austausch
unter Studierenden auf eine unterhaltsame Art näherte, war
eine erfreuliche
Ausnahme. Mehr solcher Filme wären ein Gewinn für
Europa.