„Irgendwann ohne Hilfe überall hinkommen“
von Hannah Birke
Gewöhnlich lässt sich der Mensch durch Mauern und Geländer auf seinem Weg lenken. Nicht aber ein Traceur. Für ihn stellen diese Einrichtungen lediglich Hindernisse dar, die es zu überwinden gilt.
Ein junger
Mann mit durchtrainiertem Oberkörper verlässt durch
das
Fenster sein Büro, dann läuft und springt er auf
direktem Weg über die Dächer
Londons nach Hause. Tief unter ihm in den Straßen
läuft dagegen gar nichts –
Autostau, Rush Hour. Dieser Werbespot für die BBC sorgte 2002
in Großbritannien
und Frankreich für Aufsehen und veränderte das Leben
von Pascal aus Stuttgart.
Denn der junge Mann, der sich in dem Werbespot so unkonventionell dem
Stress
des Feierabendverkehrs entzieht, imponierte ihm gewaltig: David Belle,
Begründer von Le Parkour und einer der erfahrensten Traceure der Welt.
Spätestens
seit der spektakulären Verfolgungsjagd im James Bond-Film
„Casino Royale“ ist vielen Le Parkour ein Begriff.
Und auch in deutschen
Großstädten sieht man immer öfter Traceure
(französisch für „der den Weg
ebnet“) die verschiedensten Hindernisse mit einer
Leichtigkeit überwinden, die
manchen in ungläubiges Staunen versetzt.
Le Parkour
ist nach Aussagen des Begründers David Belle eine Sportart,
die Bewegung, Technik und harte Arbeit miteinander verbindet. Es
handelt sich
dabei um eine Weiterentwicklung der Méthode naturelle, die
Belle als kleiner
Junge von seinem Vater, einem ehemaligen Vietnam-Soldaten, gelernt hat.
Ähnlich
wie die Méthode naturelle hat auch Le Parkour zum Ziel,
möglichst auf direktem
Weg von einem Punkt zum nächsten zu gelangen. Dabei stehen
Effizienz und
Kontrolle der Bewegungen im Vordergrund. Auf kraftraubende Salti und
überflüssige Drehungen wird verzichtet. Neben diesem
sportlichen Aspekt spielt
auch der philosophische eine wichtige Rolle. Mehr noch als bei den
meisten
anderen Sportarten ist Le Parkour, wie David Belle es so treffend
beschrieben
hat, eine Lebenseinstellung.
So auch
für den 19-jährigen Pascal aus Stuttgart. Mehr als
drei Jahre
ist es her, dass er den BBC-Werbespot gesehen hat. Und was hat sich
seitdem
verändert? „Alles“, sagt Pascal. Heute ist
er Traceur und Mitglied bei
Parkour-Stuttgart. Dies hat er sich durch tägliches hartes
Training und seinen
starken Willen erarbeitet.
Auch an
diesem regnerischen Nachmittag trainiert Pascal mit seinen
Freunden und Teamkollegen Thien und Alp auf dem Campus der
Universität
Stuttgart-Vaihingen. Die drei jungen Männer in grauen
Trainingsanzügen und
ausgetretenen Turnschuhen stehen auf einer Mauer im
überdachten Zugangsbereich
zur S-Bahn-Station. Einer nach dem anderen springen sie mit einem
sogenannten
Präzisionssprung, dem Saut de précision, auf eine
gegenüberliegende Mauer und
bleiben dort, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen, stehen. Mit einem
Demitour,
einer halben Drehung, überwinden sie anschließend
ein Treppengeländer,
überspringen einen Spalt von ungefähr zwei Metern,
landen sicher auf der
anderen Seite und schließen die Bewegungsfolge mit einem
zweiten Demitour über
ein weiteres Geländer ab.
Durch diese
spektakulären Bewegungen aufmerksam gemacht, halten nicht
wenige Passanten inne, um den Traceuren beim Training zuzusehen. Durch
das
beinahe tägliche Training auf dem Campus haben die Traceure
von
Parkour-Stuttgart bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Und
auch die
monatlich stattfindenden Workshops stoßen auf
großes Interesse. Hier soll allen
Interessierten ein Einblick in das Training eines Traceurs
ermöglicht
werden.
Pascal auf dem kürzesten Weg durchs Treppenhaus. Foto: Alp
Training ist der Schlüssel zur Freiheit
Auf dem täglichen Trainingsplan eines
Traceurs steht neben den
zahlreichen Technikübungen vor allem Krafttraining. Nur
dadurch kann dem Körper
eine Verfassung antrainiert werden, die es ihm ermöglicht,
solch
außergewöhnliche Leistungen zu erbringen, die ihm
ein Traceur abverlangt. „Die
Technik ist nebensächlich, solange dem Körper die
nötige Kraft und Flexibilität
fehlt“, sagt Pascal. Selbst bei täglichem, hartem
Training für mehrere Stunden
benötigt man deshalb mindestens zwei bis drei Monate, um die
mehr als zehn
Grundbewegungen zu erlernen. Diese Grundbewegungen müssen dann
immer wieder
geübt werden, bis der Traceur sie sicher beherrscht und
verinnerlicht hat.
Diese
Grundbewegungen, die entsprechend dem Ursprungsland Le Parkours
alle französische Namen tragen, können dann in
verschiedener Weise variiert
oder miteinander verbunden werden. Verschiedene Hindernisse
können so auf
vielfältige Art und Weise überwunden werden
können. Ein selbst gestecktes Ziel
vieler Traceure ist es deshalb, durch nichts außer der
eigenen Kreativität in
der Bewegung eingeschränkt zu sein. Zu den Grundbewegungen
gehören neben dem
Präzisionssprung und der halben Drehung zum Beispiel noch die
Roulade, eine
Rolle, die die Energie aus einem Sprung, etwa von einer Mauer, in eine
Vorwärtsbewegung umformt und somit die Wucht des Aufpralls
mindert. Mit Hilfe
des Saut de détente, dem Weitsprung, können
Hindernisse mit Anlauf überwunden
werden.
„Im
Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung, Le Parkour sei ein
waghalsiger und gefährlicher Sport, ist ein wichtiges Prinzip,
kein unnötiges
Risiko einzugehen und sowohl Gefahren als auch die eigenen
Fähigkeiten realistisch
einschätzen zu können“, erklärt
Pascal. „Auf diese Weise wird die Gefahr für
Unfälle und Verletzungen minimiert.“ Im Einklang mit
diesem Prinzip steht auch
die Ablehnung der Traceure gegenüber jeglichem Wettkampfgeist.
Ein Profilieren
gegenüber anderen ist nicht Bestandteil von Le Parkour.
Stattdessen stehen
Zusammenhalt, gegenseitige Unterstützung und Motivation im
Vordergrund. So verspürte
Pascal auch keinen Neid, als ein Teamkollege an der Seite David Belles
an einer
Kinoproduktion mitwirken durfte und er nicht. Im Gegenteil, er ist
stolz auf
den Kumpel: „Dino ist ganz einfach erfahrener als
ich.“
Bei Le Parkour
zählt allerdings nicht nur die physische, sondern vor
allem auch die psychische Kraft. Nur wer einen starken Willen und
Disziplin
besitzt, kann ein guter Traceur werden. Pascal hat schon oft erlebt,
dass Leute
zum Workshop von Parkour-Stuttgart kommen und nach einer Stunde
Schnuppertraining
aufgeben, da ihnen die Arbeit, die hinter Le Parkour steckt, zu
anstrengend
ist. „Ist der starke Wille allerdings vorhanden, kann jeder
ein Traceur
werden“, meint Pascal.
„Sportler wie zum
Beispiel Turner, Weitspringer und Leichtathleten haben
selbstverständlich
bessere Voraussetzungen, da ihr Körper meist schon trainiert
ist.“
Le Parkour als Lebensphilosophie
Ähnlich
wie für viele andere Traceure ist Le
Parkour für Pascal nicht einfach nur eine Sportart, die man in
seiner Freizeit
betreibt. Sein ganzes Leben dreht sich darum. Neben dem
täglichen Training tritt
er häufig bei Veranstaltungen
auf, und
auch bei einem Werbespot hat er kürzlich mitgewirkt. Dieses
Engagement ist
Pascal auch deshalb wichtig, da er der Öffentlichkeit ein
möglichst
authentisches Bild von Le Parkour vermitteln möchte, das den
Vorstellungen des
Begründers und großen Vorbilds David Belle
entspricht.
Durch die
enorme Kommerzialisierung, die Le
Parkour zurzeit erfährt, kommt es nämlich immer
häufiger vor, dass sich Einzelpersonen
oder Gruppen als Traceure bezeichnen, eigentlich aber Abwandlungen wie
zum
Beispiel Free Running präsentieren. Bei dieser von
Sébastien Foucan begründeten
Sportart wird im Gegensatz zu Le Parkour neben der Athletik auch Wert
auf Ästhetik
gelegt. So sind unter anderem auch akrobatische Elemente in den
Bewegungsabläufen
enthalten. Das charakteristische Merkmal Le Parkours, wie bei einer
Flucht
möglichst rasch von A nach B zu gelangen, geht damit
allerdings verloren.
Um das
Entstehen eines falschen Bildes von
Le Parkour zu vermeiden, zeigt sich auch der eigentlich eher
schüchterne
Begründer immer häufiger in den Medien.
Zusätzlich ist der mittlerweile knapp
35-Jährige mit den kurzen, dunklen Haaren und dem verschmitzen
Lächeln mit
seinem Team in Europa unterwegs, um den Menschen seine Vorstellung von
Le
Parkour nahe zu bringen. Dabei legt David Belle besonderen Wert darauf,
dass
der ursprüngliche Gedanke Le Parkours, den er von seinem Vater
vermittelt
bekommen hat, deutlich wird: Effektive, fließende Bewegungen
ohne überflüssige
Komponenten im Einklang mit der Umwelt. Eine wichtige Regel ist deshalb
auch,
die Umgebung, in der sich der Traceur bewegt, in keiner Weise zu
verändern oder
gar zu zerstören. Dies gilt für urbane Umgebungen
ebenso wie für natürliche.
Le Parkour
ist keine Trendsportart, die man
eben mal schnell lernt. Echte Traceure wie David Belle und Pascal leben
für Le
Parkour und werden dies auch noch in zehn Jahren tun. Im Gegensatz dazu
wird
das enorme Interesse der Öffentlichkeit vermutlich in einigen
Jahren
nachlassen; spätestens dann, wenn eine neue
„Trendsportart“ die Neugier und
Sensationslust der Gesellschaft weckt. Für Pascal wird Le
Parkour ein
Lebensinhalt bleiben und so bleibt ihm für die Zukunft zu
wünschen, dass sich
seine Vorstellung von Le Parkour verwirklicht: „Irgendwann
ohne Hilfe überall
hinkommen.“