Religion – Hirngespinst oder evolutionärer Vorteil?

von Lisa Peter

Religiosität als Forschungsgegenstand steht zurzeit hoch im Kurs. Geistes- und Naturwissenschaften nähern sich ihr von verschiedenen Seiten, sind in der Interpretation ihrer Ergebnisse aber aufeinander angewiesen. Neurologen, Psychologen, Religionswissenschaftler und Anthropologen versuchen zu klären, was bei religiösen Menschen im Gehirn vor sich geht und welche Vorteile es für Homo sapiens haben könnte, sich mit Transzendenz zu beschäftigen.

Die Naturwissenschaften entzaubern nach und nach die Welt um uns herum. Die Hirnforschung scheint dem Menschen sein Selbstbild zu rauben: Kulturell fest verankerte und auch politisch bedeutende Konzepte wie der freie Wille und die damit verbundene Handlungsautonomie des Menschen geraten zunehmend in Zweifel. Jetzt geht es auch Gott und jeglicher Transzendenzvorstellung an den Kragen. Könnte man zumindest meinen, wenn man die Diskussionen in der sogenannten Neurotheologie der letzten Jahre verfolgt.

Der Mensch des 21. Jahrhunderts muss sich mit seiner radikalen Sterblichkeit neu auseinandersetzen, findet Thomas Metzinger, Professor für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Adjunct Fellow des Institute for Advanced Studies in Franfurt am Main: „Neurowissenschaften und Evolutionstheorie machen deutlicher als je zuvor, dass wir nicht nur sehr verletzliche, sondern allem Anschein nach auch ganz und gar sterbliche Wesen mit einem ganz und gar innerweltlichen Ursprung sind.“


Gehirn
Die linke Gehirnhälfte mit dem Schläfenlappen, der als Sitz religiöser Gefühle gilt.
Graphik: Peter

Wo sitzt die Religion im Hirn?

Dennoch erfahren Religionsgemeinschaften einen starken Zulauf, gerade unter jungen Menschen. Weshalb spielt Religion immer noch eine so große Rolle, selbst 300 Jahre nach der Aufklärung und im Zeitalter der Hirnforschung? Sind wir genetisch vorprogrammiert, uns eine transzendente Instanz, gleich welcher Ausprägung im Detail, zu denken? Welche Vorteile könnte das haben?

In den letzen fünf Jahren sind eine ganze Reihe von Studien veröffentlicht worden, die nach dem Sitz der religiösen Empfindungen im Hirn fragen. Eine der aufsehenerregendsten ist sicher die Versuchsreihe von Michael Persinger. Der kanadische Neurowissenschaftler von der Laurentian University in Ontario setzte seine Probanden mittels eines umgebauten Motorradhelmes schwachen, aber konstanten magnetischen Feldern aus. Diese im Fachjargon „transkranielle Magnetstimulation“ genannte Technik regt den linken Schläfenlappen an, eine Region, die bereits zuvor in Verdacht geraten war, mit mystischen Wahrnehmungen in Verbindung zu stehen. Bei der sogenannten Schläfenlappenepilepsie kommt es nämlich in diesem Bereich des Hirns zu unkontrollierten, gewitterartigen Energie-Entladungen. Laut Persinger berichten viele Schläfenlappen-Epileptiker anschließend von mystischen Erlebnissen während ihres Anfalls, von dem Gefühl, einer fremden Macht begegnet zu sein, oder eine Offenbarung eines göttlichen Wesens erfahren zu haben.

Auf der Grundlage weiterer Symptome wie akustischer Halluzinationen und Lichtwahrnehmungen gehen einige Forscher so weit, die spirituellen Erlebnisse Johannas von Orléans oder gar des Apostels Paulus rückwirkend als epileptischen Anfall zu deuten. Persinger nahm diese Erkenntnisse als Ausgangspunkt für seine Untersuchungen und setzte sich zum Ziel, vergleichbare Erfahrungen bewusst und unter Laborbedingungen herzustellen. Tatsächlich gaben rund 80 Prozent der Probanden an, nach der Stimulation mittels des Motorradhelmes eine andere Präsenz neben ihnen im Raum verspürt zu haben.

„Gottes-Helm“ und „Gottes-Modul“

Persingers Helm, der im angelsächsischen Raum sofort werbewirksam als „God helmet“ betitelt wurde, ist allerdings nicht unumstritten. Eine Forschergruppe der Uppsala University um Pehr Granqvist hat versucht, Persingers Versuchsablauf nachzustellen und dabei die Kontrollbedingungen zu verschärfen. In einer sogenannten Doppelblindstudie, in der weder die Versuchspersonen, noch die Mediziner wussten, wer zur Kontrollgruppe gehörte und wer wirklich den Magnetfeldern ausgesetzt wurde, konnten sie Persingers Ergebnisse nicht bestätigen.


Gottes-Helm
"Der Gottes-Helm".
Quelle: www.blume-
religionswissenschaft.de

Dennoch scheinen andere namhafte Forscher einige von Persingers Argumenten zu untermauern. Auch der Psychologe und Neurowissenschaftler Vilayanur Ramachandran von der California University in San Diego glaubt, ein „Gottes-Modul“ entdeckt zu haben. Er identifiziert ebenfalls den linken Schläfenlappen als Sitz religiöser Erfahrungen, stellt aber gleichzeitig klar, dass an einer kontinuierlicheren Beschäftigung der Versuchsperson mit Transzendenz mehrere Hirnareale beteiligt sind. So müssen Verbindungen bestehen zum limbischen System und der Amygdala, dem sogenannten Mandelkern, die den Erlebnissen einen emotionalen Stellenwert zuweist und somit religiöse Erlebnisse als „besonders“ hervorhebt.

Kommt jetzt die Neurotheologie?

Nun stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese Ergebnisse für unser Selbstverständnis haben. Eine neue Wissenschaft bildet sich heraus: die Neurotheologie. Während Naturwissenschaftler diesen Begriff eher ablehnen, findet der Religionswissenschaftler Michael Blume (Universität Heidelberg) die Zusammensetzung „Neurotheologie“ treffend und definiert ihre Zielsetzung so: „Aufgrund von Ergebnissen in der Hirnforschung werden Aussagen getroffen über Gott, die Seele und den freien Willen, also über Konzepte, die die Erkenntnisgrenzen der Neurowissenschaften übersteigen.“

Als Kritik ist das nicht gemeint. Denn statt stirnrunzelnd auf die Zuständigkeitsbereiche der Disziplinen zu verweisen, sieht Blume die versuchten Grenzüberschreitungen der Forscher eher als Beweis für die notwendige transdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Thema. „Religiöses Empfinden kann durchaus auf neuronale Zustände zurückzuführen sein, aber Religion umfasst viel mehr als nur Erfahrungen des Transzendenten, zum Beispiel zwischenmenschliche Rituale wie Tanz oder die Ehe.“ Um das Phänomen Religion umfassend zu klären, bedarf es seiner Ansicht nach einer Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaftlern.

Fromme Paare bekommen mehr Kinder

So kann die Neurowissenschaft allein nicht begreiflich machen, warum der Mensch diese Fähigkeit zum spirituellen Erleben entwickelt hat und vor allem, weshalb diese „überflüssige“ Funktion nicht von der Evolution aussortiert wurde. „Das Gehirn ist nicht zwangsläufig vorprogrammiert auf die Erschaffung einer transzendenten Instanz, aber Religiosität bringt biologische Vorteile“, so Michael Blume. Er hat mit Hilfe einer Volkszählung in der Schweiz herausgefunden, dass religiöse Frauen eher nach religiösen Männern suchen und dass aus diesen Partnerschaften auch mehr Kinder entstehen. So sichern religiöse Gemeinschaften den Fortbestand der Art, indem sie Frauen und Männer zu sicheren Bindungen ermutigen, die durchschnittlich mehr Kinder hervorbringen.

ähnliche evolutionsbiologische Vorteile als ein weiterer Grund für Religiosität liefert auch die Untersuchung des amerikanischen Anthropologen Richard Sosis, der feststellte, dass diejenigen religiösen Gemeinschaften, in denen strenge Regeln gelten und Verzicht geübt wird, länger bestehen bleiben als Kommunen mit laxen Vorschriften. Ganz zu Recht kann man sich fragen, welche Vorteile diese „teuren Rituale“ den Mitgliedern bringen. Sosis erklärt dieses Verhalten mit dem Signalisieren von Loyalität: „Wer eine schmerzhafte Zeremonie vollzieht, kommuniziert unmissverständlich: ‚Ich identifiziere mich mit unserer Gruppe und glaube an das, wofür sie steht.’“

Der Glaube an eine höhere Instanz, die unsere Geschicke lenkt, mag also keinen direkten Nutzen für die Nahrungsaufnahme oder die Verteidigung gegen Feinde bieten, aber in sozialen Prozessen hilft sie, die Gemeinschaft zu sichern und zu erhalten. Deshalb ist anzunehmen, dass Hirne mit der grundlegenden Fähigkeit, mystische Zustände zu generieren, in der Evolution erhalten geblieben sind. Den genauen Zusammenhang zwischen den neurologischen Erkenntnissen über den Sitz religiösen Empfindens im Hirn und den sozio-anthropologisch-religionswissenschaftlichen Ansätzen gilt es noch herzustellen. Blumes Fazit: „Das menschliche Gehirn ist mit Fähigkeiten ausgestattet, die biologische Vorteile haben, Gott ist kein Fehler unseres Hirns.“ Pfeil


Weitere Infos:
Die aktuelle Themenseite „Wissenschaft und Glaube“ der Zeitschrift Gehirn und Geist zum Thema.

Buchtipps:
Andrew Newberg. Why God Won’t Go Away: Brain Science & the Biology of Belief. (Ballantine, 2001); deutsch: Der gedachte Gott: Wie Glaube im Gehirn entsteht. (Piper, 2003).
Vilayanur S. Ramachandran. Die blinde Frau, die sehen kann: Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins. (Rowohlt, 2002).

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