Sprayst du noch oder klebst du schon?

von Alessa Brochhagen

Street Art ist eine Mischung aus Kunst und politischem Statement: Sie tritt ein für eine alternative Meinung im öffentlichen Raum. Kein Wunder, dass sie irritiert.

Street Art
Foto: Brochhagen

Auf dem Weg zu Freunden in Berlin Friedrichshain verfolgt mein Blick einen Schatten auf dem Bürgersteig. Auf der Hauswand neben mir materialisiert er sich in eine Art menschliche Figur. Für einen kurzen Moment bin ich irritiert. Dann bemerke ich, dass die Figur aus Papier an die Wand gekleistert und der Schatten mit Farbe dazu gemalt wurde. Irritation, Schmiererei oder Kunst des Protests? Das, was heute unter dem Begriff Street Art die Gemüter spaltet, ist eine Kunst, die mehr sein will als einfache Provokation.

Vor gut 30 Jahren sorgten die ersten Graffitisprüher in den New Yorker U-Bahnen für Empörung. Heute sind die bunten Schriftzüge schon ein vertrauter Anblick. Doch vor einigen Jahren hat eine neue Form der visuellen Irritation Einzug in die Großstädte gehalten. Was viele als neuerliche Schmierereien empfinden, hat mit klassischen Graffiti nicht mehr viel gemeinsam.

Das unter dem Begriff Street Art bekannte Phänomen erscheint nicht auf Zügen oder entlang von Bahngleisen, sondern direkt in den innerstädtischen Wohnvierteln. In Metropolen wie Paris, New York, London oder Berlin, das man als deutsche Hauptstadt der Street Art bezeichnen könnte, werden diese Werke ungefragt und meist über Nacht angebracht.

Street Art
Foto: Brochhagen
Im Unterschied zu Graffiti bringt Street Art keine gesprühten Schriftzüge, sondern figürliche Bilder aus vielfältigen Materialien an die Wand. Dazu gehören gekleisterte Papierfiguren, die von Handtaschengröße bis Überlebensgröße im Format variieren können. Man kann aber auch Kreidezeichnungen oder besprühte Keramikkacheln entdecken.


Street Art
Foto: Brochhagen

Wo Graffitikünstler immer wieder neue typographische Stile entwerfen, arbeiten Street Artisten daran, Figuren zu entwerfen, deren Stil von comichaft bis skizzenhaft reicht. Beim Entwurf dieser im Szene-Jargon als character bezeichneten Figuren sind der Phantasie sowie dem Einfallsreichtum bezüglich Motiv und Technik keine Grenzen gesetzt.

Wer steckt dahinter? Das verrät meist ein Pseudonym, das als kleiner Schriftzug in die Arbeit einbezogen ist. Die richtigen Namen der Macher erfährt man nicht, da die Ausübung illegal ist. Trotzdem ist bekannt, dass viele Street Art-Akteure eine künstlerische Ausbildung an einer Hochschule erhalten haben oder aus anderen Bereichen der sogenannten creative industries kommen. Diese Tatsache zeigt schon an, dass der Status der Street Art vor dem Gesetz ambivalent ist.

Auf der einen Seite verabschiedete der Bundestag im September 2005 eine Erweiterung des §304 des Strafgesetzbuches. Damit fallen strafrechtlich gesehen nicht nur gesprühte Graffiti unter den Tatbestand der Sachbeschädigung. Das neue Gesetz erlaubt es auch, Street Art als „gemeinschädliche Sachbeschädigung“ zu verfolgen, wenn sie das Erscheinungsbild einer Sache „nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.“

Auf der anderen Seite hat sich die Street Art in der zeitgenössischen Kunstszene etabliert. Mehrere Ausstellungen, bei denen die Künstler zum Teil anwesend waren, belegen, dass Street Art als Kunst anerkannt ist. Die Ausstellung „Backjumps – The live issue“ aus den Jahren 2003 und 2005 im Künstlerhaus Bethanien in Berlin-Kreuzberg wurde sogar durch die Kulturstiftung des Bundes, respektive den Hauptstadtkulturfonds, gefördert.

Worum geht es der Street Art und ihren Machern? Indem sich die Street Art im öffentlichen Raum, abseits des Kunstkontextes, präsentiert, zielt sie auf einen Irritationsmoment bei einem Betrachter, der die Straße nur benutzt, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen. Street Art möchte bei ihm erreichen, dass er den öffentlichen Raum bewusst wahrnimmt.


Street Art
Foto: Brochagen

Der urbane Raum sieht sich einer zunehmenden Kommerzialisierung und Festivalisierung unterworfen. überall treten dem Bürger Werbebotschaften entgegen, kommerzielle Straßenfestivals gibt es heute zur Genüge. Dies hat zur Folge, dass der Mensch in seinem Lebensraum auf seine Rolle als Konsument reduziert wird. Street Art möchte dem etwas entgegensetzen.

Der Berliner Künstler AEM nennt die Street Art ein unabhängiges Zeichensystem, das den offiziellen Codes, wie der Werbung, im öffentlichen Raum gegenüber stehe. Er sagt, diese „richten sich ja nicht an mich als Menschen, sondern sehen mich lediglich als Zielgruppe für ständig neue Bedürfnisse.“

Indem der Street Art-Aktivist sein Werk, das als Kunstwerk immer Ausdruck einer subjektiven äußerung eines Künstlers ist, in den öffentlichen Raum setzt, bringt er einen Gegenentwurf zu den Botschaften der Werbung in diesen ein. Wo Werbung aus den Bürgern eine konsumierende Masse machen will, zielt die Street Art auf ein denkendes Individuum.

Street Art
Foto: Brochagen
Durch den Akt des individuellen Zeichensetzens erhebt Street Art erstens den Anspruch, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, sich gegen seine Kommerzialisierung zur Wehr zu setzen. Zum Zweiten präsentiert sich die Street Art bewusst deutungsoffen, wo Werbung zum Kauf eines bestimmten Produktes anregen will: „Keines meiner Plakate hat diese ‚eine Aussage’. Ich mag Zweideutigkeiten und möchte Geschichten anreißen“, sagt der Berliner Künstler GOULD über seine Arbeiten.

Street Art
Foto: Brochagen
Es bleibt also dem Betrachter selbst überlassen zu entscheiden, welche Bedeutung eine Figur hat. Wenn etwa das kleine gelbe, im Comicstil mit Sprechblase gestaltete, Männlein des Berliner Künstlers NOMAD mit erhobenem Arm ausruft: „Die sind Schuld!“. Oder ein character des Künstlers CUPK den vermeintlichen Passanten breit grinsend fotografiert. Werbung toleriert keine andere Meinung, als die Bejahung des Produkts. Street Art möchte den Betrachter auffordern, eine eigene Meinung in ein Bild hineinzulesen. Sie setzt ein alternatives, deutungsoffenes Zeichen in den öffentlichen Raum.

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas definiert Mündigkeit als „die Chance des Einzelnen, sprechen und widersprechen zu können“. In diesem Sinne kann Street Art als Aufruf zur Mündigkeit verstanden werden. Pfeil



Bücher zum Weiterlesen:
Daniela Krause, Christian Heinicke: Street Art. Die Stadt als Spielplatz. Archiv der Jugendkulturen Verlag (Berlin 2006).
Christian Hundertmark: The Art of Rebellion 2. Publikat Verlag (Mainaschaff 2006).

Links:
www.backjumps.org
www.reclaimyourcity.net

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