Die Wissenschaft, der liebe Gott und die Frage was vor dem
Urknall war
von Gesa Graser,
Verena Smykalla
Die Ansichten der Wissenschaftler spalten sich an der Frage
„Was war vor dem Urknall?“. Für viele ist
schon die Frage hinfällig, der verbleibende Teil hat
vielfältige Theorien. Nun behaupten Forscher der Pennsylvania
State University, USA, die Frage mathematisch geklärt zu
haben. Ist das der Weisheit letzter Schluss?
Die Frage, was vor dem Beginn des Universums gewesen
wäre, so der britische Physiker Stephen Hawking vor einigen
Jahren, sei so sinnlos wie die Frage, was nördlich vom Nordpol
sei. Nicht nur Raum und Materie, sondern auch die Zeit seien erst durch
den Urknall entstanden, den „Big Bang“, vor
ungefähr 13,7 Milliarden Jahren, so dass sich die Frage nach
einem Davor erübrigen sollte. Den Worten des
weltberühmten Physikers zum Trotz versuchen sich
kontinuierlich Wissenschaftler an dieser Frage, und neuerdings scheint
es salonfähig geworden zu sein, sich über die Grenzen
der Vorstellung von Raum und Zeit hinaus zu wagen.
Entstehung des Universums aus sich selbst
Richard Gott III und Li-Xin Li von der Princeton University,
New Jersey, fanden zum Beispiel eine Erklärung für
die Zeit vor dem Urknall in der Theorie des immer wiederkehrenden
Entstehens des Universums aus sich selbst. Die beiden Wissenschaftler
nehmen dabei an „dass das Universum eher aus irgendetwas als
aus dem Nichts entstanden ist. Dieses Etwas war es selbst.“
Je mehr wir zu wissen meinen, desto mehr Fragen haben wir, und viele
Lösungen werfen neue Fragen auf. Das Rätsel
„Was war vor dem Urknall?“ reicht trotz
vielfältiger Lösungsversuche bis heute an die Grenzen
unseres Verständnisses von Raum und Zeit. Und viele Kosmologen
haben erklärt, sie seien für diese Frage nicht
zuständig. Am Rand des Universums, argumentieren sie, ende die
Wissenschaft. über alles, was darüber hinausgeht,
könne man allenfalls spekulieren – oder das Feld den
Theologen und Philosophen überlassen.
Meister Eckhart, einer der bedeutendsten Theologen, Mystiker und
Philosophen des christlichen Mittelalters,
sagte:„Für mich als Forscher aber ist Gott dieses
ewige, vom Lauf der Dinge nicht beeinflussbare Sein, das die Seele in
ihrem tiefsten, zeitlosen Grunde berührt.“ Laut
Meister Eckhart erschafft und erhält Gott nicht alle Dinge in
ihrem Sein, wie die Kirchengelehrten sagten, sondern Gott selbst ist
das Sein aller Dinge. Daran findet er genauso wenig etwas
Mysteriöses wie wir am Durchgang der Materie durch einen
Urknall.
Als Grund aller Dinge sieht Meister Eckhart „eine reine
Stille, die in sich selber unbeweglich bleibt und von dieser
Unbeweglichkeit werden alle Dinge bewegt.“ Gott war also laut
Meister Eckhart schon immer da, ebenso wie die Materie. Insbesondere
letzteres stünde aber heutzutage im Gegensatz zur Ansicht der
Wissenschaft, da die Materie erst beim Urknall entstanden sein soll
Die Wissenschaft jedoch stellt bislang viel mehr Fragen, als sie exakte
Antworten geben kann. Der Mensch, hat er sich seinen Gott erschaffen,
um erklären zu können, was nicht erforschbar ist? Der
Physiker und Nobelpreisträger Max Planck (1858-1947)
ließ sich auf diese Diskussion nicht ein: „Wirklich
ist, was messbar ist, und Gott ist nicht messbar“.
Das Universum als Blase oder Membran
Zurück also zur Wissenschaft: Der russische
Kosmologe Andrei Linde von der Stanford University, Kalifornien,
entwickelte folgende Idee: Aus quantenphysikalischen Fluktuationen im
Vakuum, also im Nichts, seien spontan Raumzeit-Blasen entstanden und
hätten sich explosionsartig zu einem Universum ausgedehnt.
Unser Universum wäre dabei nur eins von vielen Universen.
Und die Astrophysiker Paul. J. Steinhardt, Princeton University, und
Neil Turok, Cambridge University, gehen davon aus, dass sich der
Urknall seit Ewigkeiten zyklisch wiederholt. Wir befinden uns nach
ihnen in einer vierdimensionalen Membran, die sich zusammen mit ihrem
spiegelbildlichen Gegenstück in einem Haupt-Universum
befindet. Kollidieren nun diese zwei Komponenten, und das soll alle
paar Billionen Jahre passieren, entsteht ein Urknall.
Schuf Gott das Universum?
Diese Theorien muten dem Durchschnittsbürger
vermutlich nicht minder phantastisch an als Ansichten früher
Kulturen zur Entstehung der Erde oder die Zukunftsvorstellungen manch
eines Science Fiction-Autors. Die heutige Ansicht der katholischen
Kirche hingegen ist einfacher zu verstehen. Der Leiter der Sternwarte
des Vatikans, George V. Coyne, studierter Theologe, Mathematiker,
Astronom und Philosoph, sagte im Februar 2006 im Interview mit der
ZEIT: „Gott schuf das Universum so, wie es ist, weil er seine
schöpferische Kraft und seinen Dynamismus mit dem Universum
teilen wollte.“ Gott habe den Urknall geschaffen.
„Aber das war kein singulärer Akt, sondern es ist
eine kontinuierliche Schöpfung.“
Das ist jedoch laut Coyne ein Glaubensbekenntnis und keine
Wissenschaft. Und so sagte er auch: „Der Urknall
benötigt nicht unbedingt einen Gott.“ Coyne stellt
klar, dass Gott ewig sei, die Menschheit aber aufgrund ihrer
Zeitabhängigkeit Probleme mit der Deutung des Begriffes
‚ewig’ habe und sich daher auch nicht vorstellen
könne, „dass Zeit und Raum erst im Urknall ihren
Anfang nahmen. Es gibt kein ‚vor dem Urknall’, es
gab keine Zeit.“ Gott ist jedoch keine Randbedingung des
Universums. „Man kann die Existenz Gottes nicht mit Hilfe der
Quantenphysik widerlegen – noch kann man sie
beweisen“, erklärt Coyne, und so sei die
Wissenschaft gegenüber religiösen, philosophischen
und theologischen Schlussfolgerungen absolut neutral. Gott war also da,
als der Urknall stattfand. Die Frage aber, wie es ohne das uns bekannte
Universum aussah, wird damit nicht beantwortet.
Schleifen-Quantengravitations-Theorie: des Pudels Kern?
Der deutsche Astrophysiker Martin Bojowald, damals noch am
Max-Planck Institut für Gravitationsphysik in Golm bei
Potsdam, mittlerweile an der Pennsylvania State University, USA, fand
2004 auf naturwissenschaftlichem Weg eine Antwort. Mittels der
Schleifen-Quantengravitations-Theorie (Loop-Quantum Gravity, kurz LQG)
kam er zu dem von ihm lapidar zusammengefassten Ergebnis, dass das
Universum schon immer existiere und keinen Anfang hätte. Er
hat die Theorie, dass vor dem Urknall der Raum praktisch in sich selbst
umgestülpt war. Man solle sich das vorstellen, als ob
Teilstücke einer Ballonhülle sich selbst durchdringen
und der Ballon sich wieder aufblähe, nur die vorherige
Innenseite nun außen sei.
Die LQG-Theorie, die Bojowald nutze, wurde 1987 erstmalig vorgestellt.
Lee Smolin, Abhay Ashtekar, Ted Jacobson und Carlo Rovelli verbinden
darin die allgemeine Relativitätstheorie mit der
Quantenphysik. Die Theorie hat als Kernpunkt, dass die Raumzeit selbst
eine atomähnliche Struktur besitzt. Die Raumzeit besteht
demnach aus winzigen eindimensionalen Fäden. Laut Smolin
existieren nur Linien und Knoten, die den Raum ausmachen. Die Art ihrer
Verbindungen definiert die Geometrie des Raumes.
Big Bounce statt Big Bang?
Die aktuellste Theorie zur Frage, was vor dem Urknall war,
kommt aus den USA. Man glaubt, die Berechnungen Bojowalds noch einen
Schritt weiter weitergebracht zu haben: Abhay Ashtekar, Direktor des
Institutes für Gravitationsphysik und Geometrie der
Pennsylvania State University und Mitbegründer der
LQG-Theorie, erklärte Anfang 2006 einleitend, dass die
allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins unser
Universum im Großen sehr gut beschreiben könne,
allerdings nur bis zu einem Zeitpunkt, „... an dem die
Materie so dicht wird, dass die Gleichungen nicht mehr
funktionieren.“ Dort wird die Krümmung der Raumzeit
unendlich und nähert sich dem Nullpunkt des Universums, der
Singularität. „Ab diesem Zeitpunkt müssen
wir Werkzeuge der Quantenphysik benutzen, die Einstein einstmals noch
nicht zur Verfügung geständen
hätten.“
So konnten Wissenschaftler Rund um Ashtekar ein Modell entwickeln, um
zurückzuverfolgen, was vor dem Urknall war. Die
Wissenschaftler nutzen ebenfalls die LQG-Theorie für ihre
Modellrechnungen und entdeckten vor dem Urknall ein in sich
zusammenfallendes Universum, ganz ähnlich dem unsrigen. Auch
über Monate hinweg exerzierte Wiederholung mit wechselnden
Parametern führte die Modellrechnungen immer wieder zu so
etwas wie Quantenabstoßung. Also gab es einen „Big
Bounce“ statt eines „Big Bang“. Unser
Universum ist nicht in einem Knall aus dem Nichts entstanden, sondern
ein vorheriges Universum hat sich winzig klein zusammengezogen um sich
dann wie ein Gummiball wieder auszudehnen – zu einem neuen
Universum. Das besagt auf jeden Fall die im Frühjahr 2006 im Physical
Review Letters publizierte Arbeit von Ashtekar und seinen
Kollegen.
Doch gibt es auch kritische Stimmen zu dieser Studie. Hermann Nicolai,
Direktor des Potsdamer Max-Planck-Insitut für
Gravitationsphysik und unabhängiger Begutachter bei Physical
Review Letters, sagte gegenüber SPIEGEL ONLINE
„Das Modell besteht aus einer drastischen Vereinfachung der
Gleichungen.“ Er persönlich habe „starke
Zweifel, dass man damit dem Problem wirklich zu Leibe rücken
kann.“ Nicolai würdigte aber, dass das neue Modell
deutlich dichter an den Zeitpunkt des Urknalls heranreicht als
bisherige Modelle. „Doch die wahre Natur des Urknalls bleibt
das große Rätsel.“
Es gibt somit nach wie vor viel Raum für weitere Forschung und
Spekulation. Jedoch ist Ashtekar auch noch nicht am Ende seiner Arbeit
angekommen; denn er will zusätzlich zur bisherigen
theoretischen Arbeit messbare Hinweise für ein Universum
finden, das vor dem heutigen existierte. Ashtekar vermutet, dass der
„Big Bounce“ nicht alle Spuren dessen
ausgelöscht hat, was unser Universum früher einmal
war, sondern dass messbare Relikte nach wie vor in unserem Universum zu
finden sind.
Das alles mag für viele unvorstellbar klingen. Aber das muss
einen forschenden Geist nicht entmutigen. Schon Einstein sagte:
„Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist
begrenzt.“