Die Zeit entsteht im Kopf
von Ulrike
Küchler
Woher kommt die Zeit? „Die Zeit kommt aus der
Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat,
und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu
bestehen.“ So beantwortete der Kirchenvater Augustinus vor
rund 1600 Jahren diese Frage. Dass sie bis heute nichts an ihrer
Aktualität eingebüßt hat, beweisen
zahlreiche Forschungsprojekte, die dem Phänomen Zeit auf die
Spur kommen wollen. Waren es in den vergangenen Jahrhunderten
vornehmlich die Geisteswissenschaften und die Physik, welche die
Herkunft der Zeit zu klären suchten, so sind es heute die
Psychologie und die Neurowissenschaften.
Für manche Seelenkundler unserer Tage gilt Zeit
längst nicht mehr als eine metaphysische oder physikalische
Größe, die es schon vor der Entstehung der Welt gab.
Vielmehr sei der Anbeginn der Zeit erst mit dem Anbeginn des Lebens in
die Welt gekommen; denn „mit der Erfindung des Lebens ist
gleichzeitig so etwas wie Zeit und Raum erfunden worden“. So
beschreibt Ernst Pöppel, Professor der medizinischen
Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in
München, den Ursprung der Zeit.
Doch daran schließt sich konsequenterweise die Frage an, wer
denn die Zeit eigentlich erfunden hat und wo man nach ihr zu suchen
hat. Für den Tübinger Kognitionspsychologen Professor
Rolf Ulrich ist Zeit ein Phänomen, das nicht in der
Außenwelt, sondern im Lebewesen selbst zu suchen ist. Denn im
Gegensatz zu anderen Wahrnehmungen, wie beispielsweise dem
Hören oder Sehen, liegt bei der Zeit kein
äußerer Reiz vor, der einen entsprechenden
Sinneseindruck hervorrufen könnte. Daher ist Ulrich der
Überzeugung, dass „Zeit, dadurch dass es keine
externe richtige Stimulation gibt, wirklich sehr stark konstruiert
wird“. Die Zeit entsteht also in unserem Kopf.
Zeit braucht Leben, und Leben braucht Zeit
Ernst Pöppel, Professor für Medizinische
Psychologie an der LMU München.
Foto: Privat
Somit muss die tradierte Vorstellung einer Zeit, die ist,
ergänzt werden zu einer Zeit, die durch das Leben ist. Aber
auch das Leben ist erst durch die Zeit möglich. Wir haben es
hier also mit einer wechselseitigen Abhängigkeit zu tun: Jedes
Lebewesen nimmt seine Umwelt auf die eine oder andere Art und Weise
wahr. Erst dadurch ist es dazu in der Lage, Informationen über
seine Umgebung zu sammeln, beispielsweise, ob sich in der Nähe
eine Nahrungsquelle befindet. Dazu muss es in der Lage sein,
unterschiedliche Situationen – etwa ein feuchtes und ein
trockenes Waldstück – miteinander zu vergleichen.
Das versetzt es Pöppel zufolge in die Lage,
„mehr“ oder „weniger“ zu
unterscheiden oder auch die Andersheit von etwas festzustellen.
„Das ist aber nur möglich, wenn es einen zeitlichen
Rahmen gibt.“
Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit
Dieser zeitliche Rahmen erstreckt sich zunächst auf
die Fähigkeit, Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit zu
unterscheiden. Der Mensch kann eine Zeitspanne von 30 bis 40
Millisekunden als gleichzeitig empfinden. Für Pöppel
ergibt sich daraus „eine Maschinerie, die uns dem Fluss der
Zeit enthebt und ermöglicht, dass wir Kategorien bilden, die
dann in bestimmte Beziehungen gesetzt werden
können.“ Die Fähigkeit, zwischen
gleichzeitig und ungleichzeitig zu unterscheiden, hat also einen ganz
konkreten Nutzen für den Menschen.
Man nehme als Beispiel zwei Gesprächspartner, die sich auf
einer recht lauten Stehparty miteinander unterhalten. Rolf Ulrich
beschreibt die Situation so: „Sie haben extrem viele auditive
Eindrücke und Sie müssen jetzt genau denjenigen, der
mit ihnen redet, herausfiltern.“ Während dieses
Filtervorgangs machen wir uns unbewusst das Phänomen der
Gleichzeitigkeit zunutze: Der auditive Eindruck des Gesprochenen und
der visuelle Eindruck der Mundbewegungen, Gestik und Mimik, werden
miteinander synchronisiert. Ohne diese Fähigkeit
könnten wir nicht miteinander kommunizieren und liefen Gefahr,
unserem Gegenüber etwas zuzuordnen, was tatsächlich
jedoch jemand anderes gesagt hat, der daneben steht. So würde
Kommunikation nicht nur verwirrend und uneindeutig verlaufen, sondern
auch in einem hohen Maße ineffizient.
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft
Ausgehend von der Fähigkeit, zwischen
Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit zu unterscheiden, haben wir
natürlich auch eine Vorstellung von Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft. Diese Vorstellung haben wir nicht, wie man vermuten
könnte, bereits von Geburt an, wir erlernen sie erst. Das
könnte man sich mit Ulrich derart „vorstellen, dass
Kinder eigentlich nur im Jetzt leben, dass sie sich gar nicht nach
vorne und nach hinten orientieren.“ Erst mit dem Spracherwerb
werde der Mensch zu der durchaus nützlichen Unterscheidung von
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft fähig, sagen die
Psychologen. Denn die Zeit ist strukturell in der Sprache verankert.
Das zeigt sich schon allein daran, dass wir mithilfe grammatikalischer
Strukturen dazu in der Lage sind, ein Ereignis in der Vergangenheit, in
der Gegenwart oder in der Zukunft zu verorten. Die Ausdifferenziertheit
der Sprache im Hinblick auf zeitliche Dimensionen ist durchaus
sinnvoll, ermöglicht sie uns doch, miteinander über
Vergangenes zu sprechen und, darauf aufbauend, bevorstehende Ereignisse
zu planen.
Die subjektive Gegenwart hat nach dem Verständnis der modernen
Psychologie und im Gegensatz zu Augustinus auf jeden Fall eine Dauer.
Diese geht über unser Gleichzeitigkeitsempfinden noch hinaus
und bildet nach Pöppel im „menschlichen Gehirn eine
zeitliche Bühne von zwei bis drei Sekunden“. Diese
zeitliche Bühne hat einen erheblichen Einfluss auf zahlreiche
Bereiche unseres Lebens, auch dort, wo wir es vielleicht gar nicht
vermuten würden. So sind wiederum unsere Sprache, aber auch
Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis, Entscheidungen, ja sogar
musikalische Motive von dieser Zeitsegmentierung betroffen.
Diese starke Prägung verdeutlicht Pöppel am Beispiel
der Sprachwahrnehmung, wenn er darauf hinweist, das Menschen
diesbezüglich miteinander synchronisiert sind, „das
heißt, ich brauche den Satz gar nicht mehr zu Ende zu ...
sprechen, weil Sie antizipieren können, was ich gleich sagen
... werde.“ Schwierigkeiten in der Sprachwahrnehmung, unter
anderem bei der Unterscheidung verschiedener Laute, wie sie bei
Legasthenikern auftreten, lassen sich beispielsweise auf eine
ineffiziente Verarbeitung von Zeitinformationen
zurückführen. Durch ein entsprechendes Training der
zeitlichen Diskrimination könnte, gemäß
Ulrich, auch die Sprachwahrnehmung verbessert werden.
Subjektives Zeiterleben
Nun stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der
subjektiven Gegenwart und unserem Zeitempfinden. Sicherlich kennt jeder
die Erfahrung, dass wir Zeit nicht als etwas
regelmäßig Fließendes erleben, sondern mal
als zäh und kriechend, dann wieder als rasend schnell. Diese
umgangssprachliche Beschreibung ist im Verständnis der
modernen Psychologie genaugenommen falsch. Denn die Zeit
fließt nicht etwa unregelmäßig, wir nehmen
sie nur so wahr, gemessen am Erlebnisreichtum der jeweiligen Situation,
in der wir uns befinden. Dieses Phänomen wird unter dem Namen
der storage-size-Hypothese zusammengefasst: Sind wir beispielsweise
Zuhörer einer langweiligen Unterhaltung, so richten wir unsere
Aufmerksamkeit sehr häufig auf die Zeit. Subjektiv erleben wir
ein Ungleichgewicht zwischen dem, was wir erfahren und der vergehenden
Zeit. Die Dauer der Unterhaltung kommt uns dem entsprechend
über Gebühr gedehnt vor. Umgedreht ist es
natürlich genauso: Erhalten wir in einer Unterhaltung,
gemessen an der Zeit, ungewöhnlich viele Informationen, so
kommt es uns vor, als ob die Zeit nur so dahin rast. Hätte die
interessante Unterhaltung dieselbe Dauer wie die langweilige, so
würden wir ihnen im Moment des Erlebens wahrscheinlich ganz
unterschiedliche Zeitspannen zuordnen.
Betrachten wir die jeweilige Situation jedoch retrospektiv, in der
Rückschau, entsteht ein Paradox, denn hier dreht sich die
subjektive Zeiteinschätzung um: Die Dauer der langweiligen
Unterhaltung schätzen wir nun genau umgekehrt ein, denn
„im Rückblick ist das dann eine sehr kurze Zeit,
weil eben keine Information gespeichert ist“, wie der
Psychologe Pöppel meint. Die Dauer der interessanten
Unterhaltung bewerten wir hingegen als sehr ausgedehnt, gemessen am
Erfahrungsreichtum, den diese Situation mit sich gebracht hat. Die
naheliegende Schlussfolgerung lautet daher laut Ulrich: „Wenn
ich viel gespeichert habe, ist die Zeit länger; wenn ich wenig
gespeichert habe ist sie kürzer.“ Damit ist jedoch
erst die retrospektive Seite der Zeitschätzung erfasst.
Daneben gibt es noch die vorausblickende, also prospektive
Zeitschätzung, die ebenso auf Erfahrungs- und
Informationsinhalte zurückgreift. Wenn wir beispielsweise die
Zeit schätzen müssten, die wir mit dem Zug von
Hamburg nach München benötigen, dann beziehen wir
unbewusst zahlreiche bereits gespeicherte Informationen mit ein: unter
anderem eine geschätzte Strecke von 800 Kilometern
(schließlich haben wir eine ungefähre Vorstellung
der Deutschlandkarte vor Augen), unsere Erfahrungen mit der
Geschwindigkeit von ICEs und mit der Deutschen Bahn. Wahrscheinlich
kommen wir auf ein Ergebnis von circa sechs bis sieben Stunden, was
auch ungefähr den realen Zeitverhältnissen entspricht.
Die innere Uhr
Neben dem Erfahrungsreichtum beeinflusst auch die uns allen
eigene innere Uhr unser subjektives Zeiterleben. Man kann sie sich als
einen internen Pulsgeber vorstellen, eine Art Zählmechanismus.
Dieser Gedanke ist in der Psychologie im sogenannten Pacemaker Counter
Model erfasst. Laut Ulrich ist dafür jedoch nicht, wie
zuweilen behauptet, nur eine einzelne Nervenzelle verantwortlich,
sondern vielmehr „wahrscheinlich eher eine ganze Population
von Neuronen, eine genaue Vorstellung hat man nicht.“ Diese
Neuronenpopulation arbeitet nicht abgeschottet von der
Außenwelt, sondern unterliegt zahlreichen
äußeren Faktoren, weshalb in punkto
Regelmäßigkeit auf unsere innere Uhr auch nur
bedingt Verlass ist. Einerseits ist sie auf die Tageszeit angewiesen,
denn „mittags zum Beispiel erleben wir das gleiche Intervall
als subjektiv länger als abends oder morgens“, so
der Psychologe Pöppel. Andererseits spielt die Art des
äußeren Reizes, die sogenannte Modalität,
eine wesentliche Rolle.
Wenn man beispielsweise einen sehr lauten Hörreiz, etwa einen
sehr lauten Knall, und einen visuellen Reiz, etwa einen Lichtblitz,
beide 0,1 Sekunden lang, hinsichtlich ihrer Dauer schätzen
soll, dann wird man sehr wahrscheinlich den auditiven Reiz als
länger empfinden als den visuellen. Der Grund dafür
liegt darin, dass auditive Reize im Allgemeinen, besonders jedoch laute
auditive Reize, erregender wirken als visuelle Reize. So wird das
zentrale Nervensystem stärker aktiviert und auch der Pulsgeber
arbeitet stärker und produziert so mehr Impulse pro
Zeiteinheit. Dadurch werden unserem Körper in einer bestimmten
Zeiteinheit, hier innerhalb einer Zehntelsekunde, durch einen auditiven
Reiz mehr Impulse signalisiert als durch einen visuellen. Diese
höhere Anzahl der Impulse führt in der Folge dazu,
dass wir den auditiven Reiz als länger bewerten als den
visuellen.
Zeitforschung
Rolf Ulrich, Professor für Allgemeine Psychologie in
Tübingen.
Foto: Privat
Dieses Beispiel hat Bedeutung für ein Problemfeld,
mit dem sich die Zeitforschung aktuell auseinandersetzt. „In
der Tat gibt es Vorstellungen dahingehend, dass es eben nicht eine
einzige Uhr gibt, sondern mehrere spezialisierte Uhren“, so
Ulrich. Neben der Vermutung, dass unterschiedliche innere Uhren
für kurze und lange Zeitbereiche existieren, versucht der
Kognitionspsychologe momentan experimentell die Frage zu
klären, ob es auch sogenannte modalitätsspezifische
Uhren gibt, ob wir also möglicherweise unterschiedliche innere
Uhren für die Auswertung beispielsweise von auditiven und
visuellen Reizen zur Verfügung haben.
Genauer gesagt stützt sich Ulrich auf die These, dass
innerhalb von kurzen Zeitbereichen mit einer Dauer von bis zu einer
Sekunde modalitätsspezifische innere Uhren arbeiten,
während für längere Zeitbereiche, die eine
Sekunde überschreiten, eine einzige amodale innere Uhr
existiert. Um solche Fragen experimentell zu klären, werden
Versuchspersonen dahingehend trainiert, dass sie in der Lage sind, im
Hinblick auf eine bestimmte Modalität, beispielsweise das
Sehen, die Zeit zu bestimmen. Anschließend wird
überprüft, ob im Hinblick auf eine andere
Modalität, beispielsweise das Hören, ein
Transfer-Effekt eintritt, sprich, ob die Zeit hier nun besser
diskriminiert, also bestimmt werden kann, oder ob es noch immer eine
Diskrepanz zwischen der Schätzung der Dauer des visuellen und
des auditiven Reizes gibt.
In einer Variation des Experiments werden die Versuchspersonen darauf
trainiert, innerhalb einer Modalität eine ganz bestimmte
Zeitspanne, beispielsweise genau 100 Millisekunden, zu
schätzen. Auch hier wird anschließend der
Transfer-Effekt überprüft, die Versuchsperson muss
also bei Änderung der Modalität immer noch 100
Millisekunden diskriminieren. Wenn es für einen gewissen
Zeitbereich modalitätsspezifische innere Uhren für je
unterschiedliche Reize gibt, dann würde Ulrich
„erwarten, dass es einen bestimmten Transfer gibt, wenn man
nur die Reizeigenschaften verändert, aber nicht die Zeit, und
umgekehrt.“ Noch ist diese Detailfrage aber nicht entschieden.
Das Zirkularitätsproblem
Prinzipiell aber scheinen erste psychologische Grundlagen der
Entstehung von Zeit im Kopf geklärt zu sein. Alle bereits
beschriebenen Formen der zeitlichen Wahrnehmung,
„Gleichzeitigkeit, Ungleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge
subjektiver Gegenwart und Dauer“ bilden für den
Psychologen Pöppel eine Art Hierarchie der Zeit im subjektiven
Erleben des Menschen. Damit scheint der Mensch nun eine weitere
Kategorisierung seiner Wahrnehmung erfolgreich durchgeführt zu
haben.
Doch einem Problem wird er bei dem Versuch einer Analyse der Zeit nie
aus dem Wege gehen können. Auch die technischen
Möglichkeiten, immer tiefer in das menschliche Gehirn
einzudringen und seine Aktivitäten immer exakter messen zu
können, ändern daran nichts. Es handelt sich hier um
ein Zirkularitätsproblem, dessen sich Psychologen wie
Pöppel und Ulrich jedoch zumindest bewusst sind, denn:
„Wir denken über die Zeit nach mit einem Gehirn, das
Zeit selber empfindet.“ Dieses Problem ist in einem
Zeitverständnis, das an das Leben und das Gehirn gebunden ist,
von Anfang an enthalten. Wenn wir also Zeit erklären wollen,
müssen wir auch in der Lage sein, das menschliche Gehirn zu
analysieren. Dies können wir jedoch nur mit eben diesem
– unserem Gehirn.